Charles R. Darwin beschreibt die gefühlte Temperatur

Nasskalt, eiskalt, gefühlte Kälte

von Holger Westermann

Leonhardikirche minus 13 Grad

„Das Klima war gewiss erbärmlich: Die Sommersonnenwende war nun vorüber, doch jeden Tag fiel Schnee auf die Berge, und in den Tälern gab es Regen, begleitet von Graupeln. Das Thermometer stand im Allgemeinen bei 7°, fiel nachts aber auf 3° oder 5°. Wegen des feuchten und aufgewühlten Zustands der Luft, die von keinem Sonnenstrahl aufgeheitert war, empfand man das Klima als noch schlimmer, als es tatsächlich war.“ lautet der Tagebucheintrag des 24 jährigen Naturforschers Charles Darwin am 25. Dezember 1833 über seinen Aufenthalt in der Wigwam-Bucht, „ein traulicher kleiner Hafen (geschützter Ankerplatz) nicht weit von Kap Hoorn“, Feuerland. Damit ist das Phänomen der gefühlten Temperatur, der besonders grimmig empfundenen Kälte anschaulich beschrieben.

Das Temperaturempfinden der Menschen bestimmt nicht allein die Lufttemperatur. Genau genommen fehlt den Menschen die Fähigkeit, absolute Temperatur zu spüren. Das ist für sie auch nicht wichtig, denn die Körpertemperatur beträgt zu jeder Zeit rund 37°C; nachts und morgens etwa 0,5°C darunter, nachmittags und abends etwa 1°C darüber (fertile Frauen haben ein bis zwei Tage nach dem Eisprungs eine um 0,5°C erhöhte Körpertemperatur). Für einen funktionsfähigen und langfristig gesunden Körper ist es wichtig, diese optimale Betriebstemperatur aufrecht zu halten. Dazu muss der Körper seine aktuelle Körpertemperatur kennen. Die messen viszerale Thermorezeptoren im Gehirn (Regio praeoptica des Hypothalamus). Zweitens ist es wichtig zu wissen, wieviel Körperwärme gerade an die Umgebung abgegeben wird. Das messen die periferen Thermorezeptoren in der Haut (Kaltsensoren aktiv < 30°C und >45°C liegen unterhalb der Epidermins; Warmsensoren aktiv > 36°C liegen in der Dermis). Die exakte Umgebungstemperatur ist biologisch gar nicht relevant - sondern allein der Wärmeverlust.

Wärme entsteht im Körper durch Muskelarbeit und die Aktivität der Organe, insbesondere der Leber und Darm. Bei intensiver körperlicher Anstrengung kann die Kerntemperatur des Körpers auf 40°C ansteigen. Dann ist eine optimale Wärmeabgabe überlebenswichtig. Überhitzung verträgt der Körper deutlich schlechter als übermäßige Auskühlung. Bei 5°C zuviel droht der Hitzetod während ein Absinken der Körperkerntemperatur um 5°C nur leichte bis mäßige, reversible Beeinträchtigungen provoziert. Lebensgefahr besteht ab 8 bis 10°C Absenkung im Körperinnern. Dagegen können Extremitäten, insbesondere Hände und Füße auf 22°C abkühlen ohne Schaden zu nehmen, abgesehen von einem markanten Missempfinden.

Wichtigstes Medium um Wärme zu transportieren ist der Blutfluss. Soll die Körpertemperatur sinken, weiten sich die Adern, wodurch mehr Blut unter der Haut vorbei strömt und dabei mehr Wärme an die Umgebung abgegeben wird. Ist die Differenz zur Umgebungstemperatur klein, bleibt der Effekt auch bei maximal geweiteten Adern gering. Dann beginnt man zu schwitzen. Der Wasserüberzug verdunstet, wodurch sich die Hautoberfläche abkühlt und damit die Temperaturdifferenz vergrößert, das Blut wird wieder gekühlt. Bei Schwüle ist die Umgebungsluft jedoch bereits mit Wasserdampf gesättigt und der Schweiß rinnt ohne kühlenden Effekt den Körper herab. Besonders drastisch ist das zu spüren, wenn bei Muskelanstrengung die Körpertemperatur steigt und dichte, wärmende Kleidung ein schwülwarmes Mikroklima auf der Haut erzeugt. Dann kann auch im Winter Wärmestau und Überhitzung auftreten.

Unter normalen Bedingungen und in angemessener Kleidung muss bei Kälte die Wärme im Körper gehalten werden. Dann ziehen sich die Adern zusammen und reduzieren den Blutfluss in der Haut und damit den Wärmeverlust. Bei unbewegter trockener Luft, während Windstille oder unter wasserdampfdurchlässiger mehrschichtiger Kleidung, bildet sich eine angewärmte Isolierschicht, die eine weitere Wärmeabgabe verringert. Hohe Luftfeuchte und rascher Austausch der hautnahen Luft bei starkem Wind lassen dagegen den Wärmeverlust ansteigen - das registrieren auch die Kälterezeptoren in der Haut. Die physiologisch wirksame Temperatur sinkt deutlich unter den Thermometerwert. Im Sonnenschein schwächst dagegen die Strahlungswärme das Kälteempfinden.

Genau diesen Effekt hat Charles Darwin bei seinem wochenlangen Aufenthalt am Kap Hoorn so anschaulich beschrieben. Die HMS Beagle verweilte in diesem unwirtlichen Seegebiet, das für seine eiskalten Stürme und Orkane sowie anhaltende Niederschläge berüchtigt ist, um sichere Seewege zu erkunden und durch Küstenvermessungen Seekarten zu verbessern. Heutzutage wird das Temperaturempfinden durch die „gefühlte Temperatur“ dargestellt. Sie vergleicht den Einfluss aller Wettereigenschaften (oder auch der Raumklima-Bedingungen) auf das Wärme-, Behaglichkeits- oder Kältegefühl mit einer Referenz-Lufttemperatur unter Standardbedingungen im Schatten bei leichtem Windzug von 0,2 Metern pro Sekunde. Der Deutsche Wetterdienst (DWD) hat dafür das Klima-Michel-Modell entwickelt. Dieser „Michel“ ist ein 35-jährigen Mann von 1,75m Körperhöhe und 75kg Körpermasse der sich mit geringer Anstrengung bewegt (4 km/h spazieren). Die Kleidung ist den thermischen Bedingungen angemessen gewählt. Relevante Einflussgrößen für eine Diskrepanz zwischen gefühlter und gemessener Temperatur sind:

  • Lufttemperatur
  • Luftfeuchte
  • Luftbewegung / Windgeschwindigkeit
  • Sonnenstrahlung
  • Indirekte Strahlung; Wärmestrahlung von Boden, Gebäuden, Gewässern, …

So lässt nasskaltes Wetter frösteln, wenn bei niedriger Lufttemperatur der Wind den Regen in Böen über die Landschaft treibt. Auch bei +10°C kann eine Körperreaktion spürbar werden, die einer Temperatur unter 0°C entspricht. Ist die Luft tatsächlich frostig kalt, schwindet der Einfluss der Luftfeuchte. Eiskalte Luft enthält kaum Wasserdampf, sie ist trocken. Deshalb wird bei geringer Luftbewegung Sonnenschein bei -3°C wärmer wahrgenommen als +3°C im Regen. Doch je heftiger der Wind weht, um so rasanter fällt die gefühlte Temperatur. Im Vergleich zu diesem der Windchill- oder auch Windabkühlungseffekt, verlieren die anderen Parameter an Relevanz.

Die Windchill-Temperatur ist diejenige Lufttemperatur, die ohne Wind den gleichen Abkühlungseffekt hätte. Weht bei einer Temperatur von 0 °C ein mäßiger Wind um 25 km/h, so kommt einem die Temperatur wie -6 °C vor. Bei -10 °C sind es schon -19 °C. Bei noch stärkerem Wind wächst die Differenz zwischen Thermometerwert und gefühlter Temperatur und erreicht bei 60km/h Wind (Stärke 7 Beaufort) auch hierzulande über 15°C (0°C bei Windstille entsprechen dann etwa -9°C; -10°C schon -23°C und bei den derzeit angekündigten -20°C können lebensgefährliche -37°C erreicht werden). Im Sommer wird dieser Kühlungseffekt sehr angenehm empfunden, oftmals unbemerkt bleibt dann jedoch das Risiko für Sonnenbrand.

Im Freien gilt eine gefühlte Temperatur zwischen 0 und +20°C als „behaglich“ oder „Komfortbereich“, da durch angemessene Kleidung eine optimale Regulation des Wärmehaushalts gelingt. Ist es kälter oder wärmer, leiden die Menschen unter Kältestress oder Wärmebelastung. Liegt die gefühlte Temperatur ausserhalb des Komfortbereichs, drohen Risiken für die Gesundheit. Bei geringer Abweichung sind vorrangig Menschen mit erheblicher Vorbelastung betroffen, beispielsweise Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Angina pectoris oder Herzinsuffizienz. Bei Hitze schwitzen die Menschen sehr stark und durch den Wasserverlust dickt das Blut ein, die Fließeigenschaften verschlechtern sich, das Herz muss heftiger pumpen und das Risiko für Thrombosen steigt. Bei Kälte ziehen sich dagegen die Adern zusammen und bei gleichbleibender Blutmenge erhöht sich infolgedessen der Blutdruck und damit das Infarktrisiko.

Für physiologische Effekte, für die Reaktion des Körpers auf Wetter und thermische Einflüsse ist daher ausschließlich die gefühlte Temperatur relevant. Deshalb stützt sich die auf Menschenswetter veröffentlichten Prognosen des Deutschen Wetterdienstes (DWD) und der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) aus Wien stets auf diesen Temperaturwert. Auch bei Menschenswetter gilt die Komfortzone zwischen 0 und 20°C als weit gefasster Normalbereich, während die Kälte- und Wärmereize in 5 bis 10°C-Stufen unterteilt sind. Was noch schwieriger beschrieben und in den Prognosen für die einzelnen Erkrankungen berücksichtigt werden kann, ist der Einfluss des Wetters auf das Gemüt und damit auf das allgemeine Gesundheitsempfinden.

So schreibt Charles Darwin am 23. Juli 1834 in der Bucht von Valparaiso (damals wichtigster Seehafen Chiles) in seinem Reisetagebuch: „Als der Morgen kam, sah alles herrlich aus. Nach Feuerland schien das Klima ganz köstlich - die Luft so trocken und der Himmel so klar und blau im leuchtenden Sonnenschein, dass die Natur voller Leben funkelte. (…) Es gibt viele sehr schöne Blumen, und die Pflanzen und Büsche besitzen, wie in den meisten trockenen Klimaten, einen kräftigen und eigenen Duft - selbst die Kleidung wurde, wenn man hindurchstrich, davon durchduftet. Ich verwunderte mich unablässig darüber, dass ein Tag nach dem anderen so schön wie der vorherige war. Welchen großen Einfluss das Klima doch auf die Lebensfreude hat! Wie gegensätzlich ist die Empfindung, wenn man schwarze Berge sieht, die halb in Wolken gehüllt sind, und eine andere Kette durch den hellblauen Dunst eines schönen Tages! Das eine kann sehr erhaben sein, das andere ist ganz Heiterkeit und glückliches Leben.“

Quellen:

Darwin, C.R. (1845): Die Fahrt der Beagle - Tagebuch mit Erforschung der Naturgeschichte und Geologie der Länder, die auf der Fahrt von HMS Beagle unter dem Kommando von Kapitän Robert Fitz Roy, RN, besucht wurden. 2. Auflage, übersetzt von Eike Schönfeld für mare buchverlag, 2007.

M.Sc. Met. Stefan Bach: Die gefühlte Temperatur. Thema des Tages, Newsletter des Deutschen Wetterdienstes (DWD) vom 08.01.2018

Dipl.-Met. Christian Herold: Gefühlte Temperatur. Thema des Tages, Newsletter des Deutschen Wetterdienstes (DWD) vom 23.02.2018

 

Foto: Leonhardikirche Siegertsbrunn, Montagmorgen, 26.02.2018, 9 Uhr, -13°C

Erstellt am 25. Februar 2018
Zuletzt aktualisiert am 4. März 2018

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