Sehnsucht nach sozialer Nähe provoziert Angina pectoris, Herzinfarkt und Schlaganfall

Krankes Herz durch Einsamkeit

von Holger Westermann

Bedrückend empfundene soziale Isolation erhöht das Infarktrisiko um 30%. Ein Forscherteam der University of York in Heslington (Großbritannien) untersuchte den Effekt von Einsamkeit auf lebensbedrohliche Gefäßerkrankungen und erkannte eine erhebliche Risikosteigerung, vergleichbar mit anderen psychosozialen Faktoren wie Angststörungen oder Stress im Beruf.

Alleinsein ist nicht Einsamkeit, denn es gibt durchaus gute Gründe sich zumindest eine zeitlang von Mitmenschen fern zu halten. Andererseits kann ein Aufenthalt unter Menschen vom übermächtigen Gefühl der Einsamkeit geprägt sein. Diese Ambivalenz liegt in der Natur des Menschen. Biologisch betrachtet zählt Homo sapiens zu den Affen und ist als soziales Säugetier auf die Gesellschaft persönlich vertrauter Gruppenmitglieder angewiesen, um sich auf Dauer wohl zu fühlen. Genau diese Gesellschaft ist aber auch Ursache für sozialen Stress. Unstrittig ist, dass soziale Kontakte die Gesundheit fördern. Doch jeder Mensch hat individuell intensives Bedürfnisse, sich mit seinen Mitmenschen auszutauschen.

Dabei kennt das Phänomen Einsamkeit viele Facetten, je nach Lebensalter und Geschlecht, je nach Familieneinbindung, je nach Größe des Wohnorts und Vielfalt der Gesellschaft, je nach Beruf oder anderem als sinnvoll empfundenen Lebensinhalt. So empfinden quälende Einsamkeit:

  • Schulkinder, die keine Freunde haben
  •  Jugendliche, die ihre Clique verlieren, weil sie umziehen müssen
  • Singles, die sich nach einer neuen Partnerschaft sehnen, aber konsequent das Risiko einer Zurückweisung meiden
  • Großeltern, deren Kinder und Enkel andernorts eine neue Heimat gefunden haben
  • Rentner, denen mit ihrem Beruf der zentrale Lebensinhalt und die Mehrzahl der Sozialkontakte abhanden kam
  • Verwitwete, die erkennen, dass sie allein keine Freundschaften pflegen können oder wollen

Einsamkeit ist kein plötzlich auftretender Gemütszustand, sondern ein reifendes Gefühl, das einen immer größeren Bereich der Seele für sich beansprucht. Drei Phasen lassen sich von einander abgrenzen:

  1. vorübergehende Einsamkeit, lässt sich zumeist auf einen konkreten Anlass oder eine Ursache zurückführen. Auslöser sind oft Seelenkrisen wie Liebeskummer, Wohnortwechsel, persönliche Neuorientierung - der alte Freundeskreis passt nicht mehr.
  2. isolierende Einsamkeit, ist steter Rückzug aus sozialen Bindungen; oft verbunden mit schwindendem Selbstwertgefühl. Neigung und Fähigkeit neue soziale Bindungen zu knüpfen schwindet, da die Angst vor Demütigung durch Zurückweisung übermächtig wird.
  3. chronische Einsamkeit ist geprägt vom Gefühl der Verlorenheit und weitreichendem Zweifel an der eigenen sozialen Kompetenz. Zurückweisungen werden als berechtigte Bestätigung des eigenen sozialen Versagens angesehen. Offensichtlich werden rhetorische und empathische Inkompetenz, da soziale Fähigkeiten nicht mehr geübt werden. Depressionen sind häufig, als Ursache und als Folge.

Dabei muss der Weg durch die Phasen sich verdichtender Einsamkeit nicht mit einem Mangel an sozialen Kontakten beginnen. Fehlt den Interaktionen empathische Tiefe, gelingt es nicht Vertrauen aufzubauen, mangelt es an der Bestätigung persönlicher Bedeutung, dann bleibt das Zusammentreffen oberflächliche Gesellschaft und wandelt sich nicht zur Gemeinschaft. Kurz: Die aktive Pflege von Freundschaften mit dem Gefühl der Zusammengehörigkeit (die kann es auch in Familien geben) vertreibt die Einsamkeit.

In einer Zusammenschau von 23 wissenschaftlichen Veröffentlichungen (Metaanalyse) zum Effekt der Einsamkeit auf lebensbedrohliche Gefäßerkrankungen zeigte sich, dass soziale Isolation nicht nur die Lebensqualität schmälert, sondern auch messbare Auswirkungen auf die Gesundheit mit sich bringt. Insgesamt wurden die Daten von mehr als 181.000 Probanden, die zwischen 3 und 21 Jahren wissenschaftlich begleitet wurden, in der Metaanalyse berücksichtigt. Davon erkrankten 4.628 Teilnehmer aufgrund einer KHK entweder an einer Angina pectoris oder einen Herzinfarkt; 3.002 Probanden erlitten einen Schlaganfall. Damit war in der Gruppe einsamer Menschen das Risiko für eine Angina pectoris oder einen Herzinfarkt um 29% erhöht; für einen Schlaganfall sogar um 32%. Als Vergleichsgruppe dienten Menschen mit guter Integration in ein heterogenes soziales Umfeld. Der Einfluss chronischer Erkrankung, die eine rege soziale Interaktion erschweren, wurde heraus gerechnet.

Aufgrund methodischer Unzulänglichkeiten entspricht die Aussagekraft dieser Metaanalyse jedoch nicht der Evidenz moderner Studien. Die zur Auswertung herangezogenen Beobachtungsstudien nutzen große Datensätze, die jedoch für eine ganz andere Fragestellung erhoben wurden. Bei einem solchen Versuchsdesign sind Zufallsbefunde nicht auszuschließen (s. Menschenswetter Artikel vom 1. April 2016: Horoskope bestimmen die Gesundheit), doch lassen sich (zumeist) zuverlässige Hypothesen formulieren. Es könnte jedoch auch ein Ursache-Wirkung-Umkehr-Effekt wirksam sein: Nicht diagnostizierte (und damit in der Auswertung nicht berücksichtigte) psychische oder somatische Erkrankungen können Menschen von der Pflege sozialer Kontakte abhalten und so deren Einsamkeit verursachen.

In einem Editorial-Kommentar zur Studie betonen Prof. Dr. Julianne Holt-Lunstad und Prof. Dr. Timothy Smith von der Brigham Young University in Utah (USA) die Notwendigkeit dem Phänomen Einsamkeit und den Auswirkungen auf die Herz-Kreislauf-Gesundheit mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu widmen. So sei es wichtig herauszufinden, ob soziale Kontakte via Smartphone, Tablet oder Computer die Gesundheit genauso unterstützen wie die unmittelbaren Kontakte mit vertrauten Menschen.

Für das Wohlbefinden allgemein und für die Gesundheit im Speziellen ist Einsamkeit eine ernsthafte Bedrohung. Es lohnt ein paar Tipps zu beherzigen, die den Weg ins ungewollte Alleinsein wieder wenden:

  • Bestehende soziale Kontakte pflegen oder kürzlich eingeschlafene reaktivieren. Es fällt leichter ein etabliertes soziales Netz zu reparieren und zu erweitern als zu beginnen ein ganz neues zu knüpfen.
  • Konkrete Ziele setzen, die man selbst erreichen möchte (Sport, Gartenpflege, Buch lesen, Reise organisieren). Gelingt es, bessert sich das Selbstwertgefühl und damit auch die Lust, anderen davon zu erzählen.
  • Raus gehen, und sich bewegen. Aktivität an der frischen Luft strafft Körper und Geist - zudem steigt die Wahrscheinlichkeit andere Menschen zu treffen.
  • Spontane Kontakte ausbauen anstatt sich insgeheim ausgiebig auf ein Treffen vorzubereiten.Wer insgeheim ein Treffen intensiv vorbereitet, versäumt die Gelegenheit für viele spontane Verabredungen.
  • Je näher der bereits vorhandene Kontakt ist, am Wohnort, in der Kirchengemeinde oder bei anderen Interessen (beispielsweise Patienten-Selbsthilfegruppen), um so leichter lässt sich auf zufällige Treffen bauen ohne sich aufdrängen zu müssen.
  • Zurückweisungen nicht persönlich nehmen. Oftmals haben die angesprochenen Menschen tatsächlich schon etwas anderes geplant. Beharrlichkeit kann sich lohnen.
  • Blickkontakt, Lächeln und einen „Guten Tag“ wünschen wird von den meisten Mitmenschen als Freundlichkeit registriert und animiert ein Gespräch zu beginnen. Nicht unbedingt sofort, aber wer zuverlässig mit freundlicher Miene grüßt, wird alsbald angesprochen.
  • Gelegenheiten zur Geselligkeit nutzen und beim Vereins- oder Volksfest nicht nach dem freien Tisch suchen.
  • Geduld üben; den Mitmenschen Zeit und Chance gewähren Ihre Kontaktangebote zu erwidern. Andere empfinden es oft weniger dringlich, neue Menschen kennen zu lernen. Lassen Sie sich und anderen genügend Gelegenheiten, damit sich soziale Beziehungen entwickeln können.
  • Authentisch bleiben und nicht als Schauspieler reüssieren. Gerade einsame Menschen, die ihre Wirkung auf andere selten prüfen, können nur ausnahmsweise in einer angenommenen Rolle überzeugen. Durch Alkohol Zunge und Gemüt zu lockern ist zwar eine bewährte, aber auf Dauer nicht empfehlenswerte Strategie.

Das ist kein Plädoyer für Abstinenz, die in Geselligkeit oft als „Spassbremse“ gilt, sondern gegen die Lustigkeit und Coolness aus dem Glas. Denn auch Alkohol treibt den Blutdruck hoch und schädigt die Blutgefäße; die unvermeidliche Ernüchterung am nächsten Tag sabotiert das Selbstwertgefühl und kann Einsamkeit verstärken.

Quellen:

Valtorta, N.K. et al (2016): Loneliness and social isolation as risk factors for coronary heart disease and stroke: systematic review and meta-analysis of longitudinal observational studies. Heart, online veröffentlicht am 18. April 2016. doi:10.1136/heartjnl-2015-308790

Holt-Lunstad, J.; Smith, T.B. (2016): Loneliness and social isolation as risk factors for CVD: implications for evidence-based patient care and scientific inquiry. Heart, Editorial online veröffentlicht am  doi:10.1136/heartjnl-2015-309242

Westermann, H. (2016a)
: Horoskope bestimmen die Gesundheit. Menschenswetter Artikel 1368, online veröffentlicht am 01.04.2016.

Westermann, H. (2016b): Gesundes Herz und nette Gesellschaft sind Garanten für fites Gehirn und langes Leben. Menschenswetter Artikel 1376, online veröffentlicht am 09.04.2016.

Erstellt am 23. Mai 2016
Zuletzt aktualisiert am 23. Mai 2016

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