Langfristig wirksame Schäden an der Psyche von Kindern und Jugendlichen

Mobbing provoziert Depression

von Holger Westermann

Menschen, die während ihrer Kindheit oder Jugend von Gleichaltrigen tyrannisiert, schikaniert, einschüchtert, ständig gepiesackt oder getriezt (österreichisch: sekkiert) wurden, leiden an den Folgen dieser Erfahrung bis ins Erwachsenenalter. Die Betroffenen tragen ein erheblich höheres Risiko für psychische Erkrankungen, insbesondere Depression. Zwei aktuelle Studien verdeutlichen die Langzeitwirkung der Mobbingerfahrung.

Den Begriff „Mobbing“ prägte 1963 der Verhaltensforscher und Nobelpreisträger für Medizin (1973) Prof. Dr. Konrad Lorenz. Er bezeichnete die gemeinschaftliche Abwehr von Eindringlingen (zumeist Fressfeinde) in Brutkolonien durch körperlich weit unterlegene Einzeltiere (zumeist Eltern) als „Hassen“. Solche Massen-Abwehr-Attacken sind ein steter Wechsel von überraschendem Vorstoß und raschem Zurückweichen, begleitet von lärmenden Vokalisation. Dem Eindringling ist es so nicht sich auf ein einzelnes Gegenüber zu konzentrieren, er ist umgeben von einer unstrukturierten Wolke aus wuseligen Angreifern. Diese können ihm zwar konkret keinen Schaden zufügen (von einzelnen Pick- oder Schnapp-Ereignissen abgesehen), doch die stressauslösende Gesamtsituation zwingt zuverlässig zum Rückzug. Illustre Beispiele sind das Verhalten von Gänsen gegenüber einem Fuchs, von Möven gegenüber Menschen auf der Brutinsel, von kleinen Krallenaffen gegenüber Schlangen oder der bei Schimpansen beobachtete gemeinschaftliche Einsatz von Krawall und Knüppeln gegen einen Leoparden (ein ausgestopftes Exemplar, gefilmt von Adriaan Kortlandt*).

Der schwedische Arzt Peter-Paul Heinemann verwendete 1969 den Begriff erstmals für das Phänomen, dass Mitglieder einer Gruppe (in-group) ein solches Verhalten gegen eine andere Person richten, die damit als außerhalb der Gruppe stehend stigmatisiert wird (out-group). Dabei kann es sich durchaus auch um ein Gruppenmitglied handeln, das vorübergehend ausgeschlossen wird; die out-group Stigmatisierung kann somit auch reversibel sein. Mobbing dient sowohl der Stärkung des Gruppenzusammenhalts durch Abgrenzung als Ausgrenzung, wie auch als gruppendynamisches Instrument, mit dem (vermeintlich) sektiererisches Verhalten sanktioniert wird.

Beim Mobbing in der Schule (in der englischsprachigen Literatur auch „bullying“ genannt) richtetet sich die out-group-Aggression vorrangig gegen schwächere und ängstlichere Opfer. Der Psychologe und Mobbingforscher Prof. Dr. Dan Olweus (Universität Bergen, Norwegen) nennt zwei typische Mobbingopfer an Schulen: auffällig passive Schüler sowie permanent provozierende Schüler. Es sind demnach die besonders schüchternen als auch die offensiv um Aufmerksamkeit bemühten Mitschüler, die oftmals Opfer von Mobbing werden. Wie langfristig Mobbingerfahrungen wirken, wie nahhaltig sie die psychische Gesundheit der Opfer beeinträchtigt zeigen zwei aktuelle Studien.

Wissenschaftler der University of Warwick (Coventry, Großbritannien) analysierten die Daten von zwei Langzeitstudien, die britische Avon Longitudinal Study of Parents and Children (ALSPAC) und die amerikanischen Great Smoky Mountain Studies (GSMS). Insgesamt 5.500 junge Erwachsene (18/19 Jahre bis 25 Jahre alt) wurden befragt zu Misshandlungen im Kindesalter durch Erwachsene und Gleichaltrige sowie psychologisch untersucht. Dabei zeigte sich, dass Kinder und Jugendliche, die von Gleichaltrigen schikaniert wurden, stärkere psychologische Schäden davon trugen, als Leidensgenossen, die von Erwachsenen misshandelt wurden.

„Menschen, die als Kinder einem Mobbing ausgesetzt waren, entwickelten mit größerer Wahrscheinlichkeit psychologische Probleme als solche die von Erwachsenen misshandelt wurden“, erläutert der Entwicklungspsychologe Prof. Dr. Dieter Wolke. Schon wenige Jahre nach der Mobbingerfahrung, als junge Erwachsene, litten die Opfer fünfmal so häufig unter Angstattacken und doppelt so häufig unter Depressionen. Auch das „Ritzen“, sich unter psychischem, emotionalem und sozialen Stress sich selbst zu verletzen, tritt mit erheblich höherer Wahrscheinlichkeit auf.

Erstaunt waren die Forscher, dass selbst solche Kinder, die durch ihre Eltern oder andere Erwachsene körperlich oder emotional misshandelt wurden, eine geringere Symptomatik als auch eine geringere Erkrankungswahrscheinlichkeit aufwiesen als die von Gleichaltrigen Gemobbten. Bei ihnen zeigten sich die Langzeitfolgen selbst dann noch häufiger, wenn in der Analyse der Einfluss anderer Faktoren wie beispielsweise die familiäre Situation herausgerechnet wurden.

Prof. Wolke warnt daher in seinem Fazit: „Mobbing ist kein harmloser Initiationsritus oder ein unvermeidlicher Bestandteil des Erwachsenwerdens.“ Es sei deshalb wichtig, „ dass Schulen, Gesundheitsorganisationen, und andere staatliche Institutionen zusammenarbeiten, um Mobbing und seine schädlichen Auswirkungen zu einzudämmen.“ Die bislang üblichen Initiativen, den Opfern zu helfen, verfehlten oftmals ihr Ziel, denn „Bis jetzt haben sich Regierungen ihre Bemühungen und Ressourcen auf die Behandlung der Kinder in ihren Familien konzentriert, anstatt auf Mobbing durch Gleichaltrige.“

Zum selben Ergebnis kommt eine weitere britische Studie. Sie stützt sich auf Daten aus der westenglischen Stadt Bristol, hier wurden seit den 1990er Jahren rund 14.500 Einwohner zu ihrer Gesundheit befragt. Darunter waren 4.000 Jugendliche, die sowohl als 13-Jährige als auch im Alter von 18 Jahren in Hinblick auf eine mögliche Depressionen befragt wurden. Von den 683 Jugendlichen, die im Alter von 13 Jahren mindestens einmal wöchentlich schikaniert worden waren (und das bei der Befragung erwähnten), wurde bei fast 15% im Alter von 18 Jahre starke Hinweise auf Depression festgestellt. Das ist eine dreimal so hohe Quote wie bei den Jugendlichen, die nicht über regelmäßige Schikanen berichteten. Als Mobbing-Schikanieren galt, wenn die Kinder von Gleichaltrigen ausgeschlossen, verleumdet, bestohlen, bedroht, erpresst oder gar geschlagen wurden.

In ihrem Fazit führen die Wissenschaftlern mehr als 30% der diagnostizierten Depressionen auf Mobbing-Erfahrung während der Kindheit zurück. Sie fordern daher eine rechtzeitige, also frühzeitige Interventionen bei Kindern und Jugendlichen: "Dies könnte helfen, die Last von Depressionen im späteren Leben zu reduzieren.“

Quellen:

Leery, S.T. et al. (2015): Adult mental health consequences of peer bullying and maltreatment in childhood: two cohorts in two countries. The Lancet Psychiatry, online veröffentlicht am 28.04. 2015. doi: 10.1016/S2215-0366(15)00165-0)

Bowes, L. et al. (2015): Peer victimisation during adolescence and its impact on depression in early adulthood: prospective cohort study in the United Kingdom. British Medical Journal, online veröffentlicht am 02.06.2015. doi: 10.1136/bmj.h2469.

Kortlandt, A. (1965): How do chimpanzees use weapons when fighting leopards?. In: Year Book of The American Philosophical Society 5: 327–332.

Erstellt am 29. Juni 2015
Zuletzt aktualisiert am 30. Juni 2015

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