Andauernder Stress ist größere Belastung als seltene Extrembelastungen

Gesundheitsrisiko Dauerstress

von Holger Westermann

Menschen unter Stress zeigen Körperreaktionen wie Bluthochdruck und Cortisol-Ausschüttung sowie ungesundes Kompensationsverhalten wie Rauchen, Alkoholkonsum und ungezügelte Nahrungsaufnahme oder radikalen Nahrungsverzicht. Psychische und psychosomatische Störungen, Magen-Darmerkrankungen, Diabetes und Herzinfarkt gelten als typische Folgen anhaltender Stressbelastung. Nun wurde der medizinische Mechanismus entdeckt.

Chronisch zermürbender Stress belastet die Gesundheit, doch die Betroffenen bemerken die Belastung nicht mehr, sie halten die durchaus spürbaren Folgen für normalen Alltag. Erst ein drastisches Ereignis, der psychische Zusammenbruch oder ein Infarkt, rückt den Dauerstress wieder ins Bewusstsein. Nahezu zeitgleich wurden nun drei Studien veröffentlicht, die in der Gesamtschau einen Zusammenhang herstellen zwischen Dauerstress - aktive Mandelkernregion im Gehirn - hohe Entzündungsaktivität - kardiovaskuläre Erkrankung (Herz-Kreislauf-Erkrankung).

Die paarigen Mandelkerne (Amygdala) sind Teil des limbischen Systems, einer funktionellen Hirneinheit (weitgehend auch anatomisch abgegrenzte Hirnregion) für die Verarbeitung von Emotionen und koordinieren Angst und das Wiedererkennen von Angstauslösern sowie der Aggressivität. Die Aktivität der Amygdala ist jedoch nicht zwingend notwendig, um Angst empfinden zu können. Patienten mit Urbach-Wiethe-Syndrom, bei denen die Amygdalae beidseitig geschädigt sind, zeigen durchaus adäquate Angst-Reaktionen. Jedoch verlieren Tiere mit experimentell zerstörten Amygdalae die Fähigkeit angstauslösende Reize zu erlernen.

Forscher der Harvard Medical School (Boston, Massachusetts, USA) untersuchten bei 293 Erwachsenen (Mindestalter: 30, Durchschnittsalter 55 Jahre) mit großem technischen und analytischen Aufwand die Stoffwechselaktivität der Mandelkernregion sowie Hinweise auf Entzündungsaktivität im Knochenmark und in den Arterien. Bei keiner der untersuchten Personen waren Hinweise auf eine Herz-Kreislauf-Erkrankung bekannt. Dennoch traten während der Nachuntersuchungsphase (durchschnittlich 3,7 Jahre) bei 22 Versuchsteilnehmern insgesamt 39 kardiovaskuläre Probleme auf; periphere arterielle Verschlusskrankheit (Schaufenster-Krankheit), Angina-pectoris-Attacken, Arteriosklerose und sogar Herzinfarkt oder Schlaganfall. Dabei erwies sich eine, bei der intensiven Erstuntersuchung festgestellte, hohe Aktivität in der Amygdala als markanter Risikofaktor.

„Diejenigen mit einer stärkeren Amygdala-Aktivität hatten ein höheres Krankheitsrisiko und bekamen früher Probleme als diejenigen mit weniger Stoffwechsel-Aktivität in dieser Hirnregion“, erklärten die Forscher in einem ersten Fazit. Durch die Aktivität der Amygdala könne man das Risiko künftiger kardiovaskulärer Ereignisse „zuverlässig voraussagen“. Parallel zur Aktivität der Amygdala stieg bei den Risiko-Patienten auch die Knochenmarksaktivität und die Entzündungsaktivität der Arterien. Diese, durch die Amygdala-Aktivität stimulierte, generalisierte Entzündung und forcierte Bildung weißer Blutkörperchen (Leukozyten) erklärt nach Auffassung der Forscher das Herz-Kreislauf-Risiko. Denn Entzündungen fördern die Bildung von Ablagerungen in den Arterien (Plaques), die Verengungen und Verschlüsse und letztendlich Infarkte provozieren können.

Die Forscher räumen ein, dass der Zusammenhang zwischen Dauerstress und Aktivität der Amygdala sowie zwischen Stress und generalisierter Entzündungsaktivität schon länger bekannt ist; neue Erkenntnis sei jedoch, „dass aber das Knochenmark in dieser Kette eine Rolle spielt“ und damit die Produktion weißer Blutkörperchen. Bislang habe man die Rolle des Knochenmarks bei der Entstehung von Arteriosklerose unterschätzt.

Ein Teil der Patienten litt bereits während der Erstuntersuchung unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (posttraumatic stress disorder, PTSD). Durch einen psychologischen Test wurde bei dieser 13 Personen umfassenden Gruppe zusätzlich zu den anderen Untersuchungen auch das Stresslevel bestimmt. Es zeigte sich eine enge Korrelation zwischen Stressniveau und Amygdala-Aktivität und infolgedessen auch zu Entzündungs- und Knochmarksaktivität. „Dass die Amygdala-Aktivität mit Entzündungsprozessen assoziiert ist, ist eine spannende und außergewöhnliche Erkenntnis“, konstatieren die Forscher in ihrem Fazit. So sei „die Amygdala die entscheidende neuronale Struktur hinsichtlich des Auftretens künftiger kardiovaskulärer Ereignisse“.

Kollegen spekulieren bereits darüber, ob es zukünftig möglich sei „die negativen Auswirkungen von Stress auf der Knochenmarksebene zu stoppen“. Menschen unter Dauerstress sollten zur Reduktion des Infarktrisikos „mentale Strategien die Stressentstehung zu vermeiden und damit das Übel an der Wurzel zu packen” kennen und für sich nutzen. Doch oftmals fehle sowohl bei Patienten als auch bei Ärzten das Bewusstsein für präventives Stressmanagement.

Forscher der University of California (Berkeley, Kalifornien, USA) präsentierten Versuchspersonen Filme, die Landschaftsaufnahmen oder angsterfüllte Gesichter zeigten. Dabei registrierten sie die Augenbewegungen und maßen die Aktivität in Amygdala und Hippocampus (die Patienten hatten aus medizinischen Gründen dauerhaft Drähte implantiert). Der Hippocampus (einmal in jeder Hirnhälfte) ist wie die Amygdala Teil des limbischen Systems und koordiniert die Überführung von Gedächtnisinhalten aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis. Hier werden auch unterschiedliche Informationen miteinander zu einem Gesamtbild zusammengefügt, das als Referenz für aktuelle Sinneseindrücke dient. Darüber hinaus steuert der Hippocampus die Emotionen und zeigt eine besondere Empfindlichkeit gegenüber starken emotionalen Stressoren. Bei Dauerstress sterben sogar Neurone ab, wodurch im Hippocampus nachhaltige Strukturveränderungen auftreten können. Diese werden als Ursache für posttraumatische Belastungsstörungen (beispielsweise bei kampferfahrenen Veteranen oder Opfern von sexuellen Übergriffen) angesehen. Infolgedessen können inadäquate Reaktionen auf emotionale Erregung auftreten. Mitmenschen zeigen sich verstört oder gar abweisend, wodurch erneut sozialer Stress entsteht. Genau diese Situatio nwirde experimentell nachgestellt - mit einer Tendenz zu Gruselreizen.

Die Forscher stellten fest, dass unter dem Eindruck der ängstlichen Gesichter zunächst die Amygdala und erst danach der Hippocampus erregt wurde. Bei den Landschaftspanoramen unterblieb die Einbindung des Hippocampus. Zentraler Emotions- und Stressfilter ist demnach die Amygdala.

Dass Dauerstress sich neurologisch qualitativ von akutem Stress unterscheidet, konnten Forscher des Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München (Bayern, Deutschland) nachweisen. Sie entdeckten im Gehirn spezielle Nervenzellen für Dauerstress. Akuter Stress wird über eine hormonelle Kaskade der Hypothalamus-Hypophysen-Neben­nie­­ren-Achse (HPA) reguliert wodurch letztendlich die Synthese von Glukokor­tikoiden aktiviert wird (beispielsweise Cortisol). Sie wirken als Auslöser der Stressreaktionen.

Eine weitere, bislang nicht bekannte, Funktion der Glukokor­tikoide ist ein Verstärkereffekt im Hypothalamus. Diese Gehirnregion steuert das vegetative Nervensystem, Sympathikus und Parasympathikus. Dabei ist im Alarmzustand, also auch bei Stress, das sympathische System aktiv; in Ruhephasen das parasympathische. Wie genau die Reaktion auf eine Reizung dieser Nervenzellen ausfällt, konnten die Forscher noch nicht feststellen, aber deren sehr spezielle Regulation: „Das Interessante daran ist, dass diese Neuronen in diesem Bereich des Hypothalamus genau dann ver­mehrt Re­zeptoren produzieren, wenn das Glukokortikoid-Niveau hoch ist, wenn die Stressreaktion des Körpers also bereits läuft“. Daher gehen die Forscher davon aus, dass „die betreffenden Neuronen lediglich bei chronischem Stress rekrutiert (ausgebildet) wer­den“. Damit würde sich eine anatomische Struktur etablieren, die reaktiv Dauerstress von akutem Stress qualitativ unterscheidet. Anhaltend wirksamer Stress verändert direkt das vegetative Nervensystem und damit auch Stresssensibilität und Stressreaktionen.

In der Zusammenschau dieser drei Ergebnisse

  • Aktivität der Amygdala (Angstzentrum) zeigt das zukünftige Infarktrisiko an
  • Dauerstress erhöht das Entzündungsniveau im Körper und damit das Infarktrisiko
  • Das Angstzentrum der Amygdala beeinflusst die Aktivität des Hippocampus
  • Verstärkender Effekt von Dauerstress über das vegetative Nervensystem

ergibt sich ein doppelter Einfluss von Dauerstress auf die innere Anspannung, einmal über die direkte Wirkung auf das Angstzentrum der Amygdala und einmal über die verstärkende Corticoid-Rückkopplung auf das vegetative Nervensystem. In beiden Szenarien ist der Dauerstress eine größere Belastung für die Gesundheit als akuter kurzzeitig wirksamer Stress.

Quellen:

Bot, I.; Kuiper, J. (2017): Stressed brain, stressed heart? Lancet, online veröffentlicht am 11.01.2017. DOI: 10.1016/S0140-6736(17)30044-2.

Ramot, A. et al. (2017): Hypothalamic CRFR1 is essential for HPA axis regulation following chronic stress. Nature Neu­roscience, online veröffentlicht am 30.01. 2017. doi: 10.1038/nn.4491

Tawakol, A. et al. (2017): Relation between resting amygdalar activity and cardiovascular events: a longitudinal and cohort study. Lancet, online veröffentlicht am 11.01.2017. DOI: 10.1016/S0140-6736(16)31714-7

Zheng, J. et al. (2017): Amygdala-hippocampal dynamics during salient information processing. Nature Communications 8, Article number: 14413, online veröffentlicht am 08.02. 2017. doi:10.1038/ncomms14413

Erstellt am 10. März 2017
Zuletzt aktualisiert am 11. März 2017

Unterstützen Sie Menschenswetter!

Die Höhe des Beitrags liegt in Ihrem Ermessen.

Weitere Informationen...

 3 Euro    5 Euro    12 Euro  
 Betrag selbst festlegen  

Gesundheitsrisiko Temperatursturz im April

Nach einer rekordverdächtigen Warmwetterphase von Februar bis Mitte April, ist jetzt das kühle wechselhafte April-Wetter mit Wind, Regen und vereinzelt auch Schneefall zurück. Der Temperatursturz um 15 bis 20°C ist an sich schon ein Gesundheitsrisiko, doch die physiologische und psychologischen Herausforderungen sind diesmal besonders drastisch. weiterlesen...


Admarker

Der digital Asthma-Helfer für die Tasche

Breazy Health


Schon wenig Rotwein kann massive Kopfschmerzen auslösen

Reichlich Rotwein am Abend kann morgens Kopfschmerz provozieren. Manchen Menschen leiden jedoch schon nach einem kleinen Glas oder gar einem Probierschluck Rotwein und rasch anflutenden Kopfschmerzen - nicht erst nach Stunden im alkoholvertieftem Komaschlaf, sondern unmittelbar anschließend bei hellwachem Bewusstsein. weiterlesen...


Impfsaison 2023/2024 für Menschen mit Atemwegserkrankungen

Robert-Koch-Institut (RKI) und Ständige Impfkommission (STIKO) empfehlen Menschen mit Asthma und COPD frühzeitige Impfung gegen Grippe (Influenza) und neue Corona-Varianten sowie eine Überprüfung des Pneumokokken-Schutzes zur Vorbeugung einer Lungenentzündung. Gerade in der jetzt beginnenden kalten Jahreszeit steigt neben Infektionen der oberen und unteren Atemwege auch das Risiko für spürbare Verschlechterung der Symptomatik von vorbestehenden Lungenerkrankungen. weiterlesen...


Künstliche Intelligenz (KI) unterstützt Ärzte bei der Diagnose

Das Konzept der KI (im Englischen treffender als Artificial Intelligence bezeichnet) ist in der aktuell populären Version auf die Komposition von Texten optimiert. In der medizinische Diagnostik werden andere Qualitäten gefordert. Doch schon heute liefern solche Anwendungen erstaunlich kompetente Unterstützung. weiterlesen...


Wetterwechsel provoziert Migräneattacken

Befragt man Menschen, die unter Migräne leiden, werden zuverlässig bestimmte Wetterlagen oder  eine besonders dynamische Veränderung des Wetters als Auslöser von Schmerzattacken genannt. Deshalb wurde dieser besondere Umwelt-Trigger schon vielfach untersucht. Neue Studien zeigen, dass es nicht die Wetterlage ist, die Schmerzattacken auslöst. weiterlesen...