Menschen mit Migräne leiden unter Störung der Blutversorgung im Gehirn, das erklärt auch ihre Wetterempfindlichkeit

Genanalyse stützt vaskuläre Migräne-Theorie

von Holger Westermann

Forscher identifizierten im Erbgut von Migräne-Patienten 30 genetische Risikofaktoren in 38 unabhängige Genregionen. Ein Gutteil dieser Gene codiert Eigenschaften von Adern und Lymphgefäßen. Bei Menschen mit Migräne wurden nun Genvarianten gefunden, die im Zusammenhang mit Fehlfunktionen der Gehirnadern stehen, beispielsweise mit ungenügender Gefäßspannung.

Menschen, die mit Migräne leben müssen, sind nicht nur während einer Schmerzepisode „krank“. Vielmehr leiden sie unter einer chronischen neurologischen Erkrankung, die in unregelmäßig und plötzlich auftretenden Schmerzepisoden eskaliert. Auslöser solcher Schmerzattacken können vielfältiger Natur sein: Veränderung des Hormonspiegels, Stress, Schlafstörungen, bestimmte Nahrungsmittel. Fast alle Migräne-Patienten nennen auch das Wetter als wirkmächtigen Trigger.

Das internationale Wissenschaftlerteam (12 Nationen) des International Headache Genetics Consortium (IHGC) untersuchte in der bislang größten Studie DNA-Proben von 375.000 Personen aus Europa, Amerika und Australien, von denen 60.000 an Migräne leiden. Sie analysierten Millionen genetischen Varianten und identifizierten dabei 38 unabhängige Genregionen, die mit Migräne in Verbindung stehen. Die meisten der Daten stammten aus 22 früheren Migränestudien.

Professor Stefan Schreiber vom Institut für Klinische Molekularbiologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) erläutert, dass ein Gutteil der als migräne-relevant identifizierten Gene direkt die Funktionsfähigkeit der Blutgefäße und der glatten Muskulatur betreffen. Er wertet dies als starkes Indiz für einen kausalen Zusammenhang zwischen Migräne und einer Fehlregulation im Blutkreislaufsystems. Dadurch werde die vaskuläre Theorie der Migräne-Pathogenese gestützt, nach der eine Störung der Blutversorgung im Gehirn Migräneanfälle auslösen kann.

Nach der vaskulären Migräne-Theorie werden die Kopfschmerzepisoden durch eine Erweiterung (Dilatation) der Blutgefäße ausgelöst. Die Dehnungsrezeptoren in der Aderwand sind schmerzsensibel. Die Mehrzahl der Migräne-Medikamente wirkt dieser Dehnung entgegen - bewirkt eine Kontraktion der Blutgefäße. Die vaskuläre Theorie kann plausibel erklären, warum die Blutgefäße im Gehirn vorübergehend schmerzempfindlich sind, wobei sich der Schmerz bei jedem (die Adern noch weiter dehnenden) Pulsschlag verstärkt.

Im Gegensatz dazu geht die neurogene Migränetheorie davon aus, dass die Nervenzelle selbst an der Schmerzenstehung beteiligt sind, möglicherweise in Verbindung mit lokalen entzündlichen Prozessen. Diese Theorie liefert auch eine gute Erklärung für das Phänomen Migräne-Aura; daran scheitert bislang die vaskuläre Theorie.

Die hier vorgestellte genomweite Suche nach migräne-relevanten Genen stützt vorrangig die vaskuäre Migräne-Therapie. Zahlreiche Gene, bei denen Migräne-Patienten eine Besonderheit aufwiesen, beeinflussten die Kontraktilität (Fähigkeit sich zusammenzuziehen) von glatten Muskelzellen oder die Regulierung des Durchmessers der Adern. Weitere migräne-typische Gene stehen im Zusammenhang mit der Reaktion auf Sauerstoffmangel und der Regulation des Aderdurchmessers über Stickstoffmonoxid (NO).

Die Forscher sprechen von einem Meilenstein für das Verständnis der Migräne. Bislang waren nur 10 Migräne-Gene bekannt, nun sind 38 weitere identifiziert. Mediziner verstehen nun sehr viel besser, warum Migräne-Patienten so sensibel auf Reizüberflutung und Energiemangel reagieren. Die glatte Muskulatur der Blutgefäße im Gehirn reagiert anders als bei Gesunden. Schlafstörungen und Stress, der auch durch schlechten Schlaf in der Nacht zuvor und infolgedessen Konzentrationsprobleme am Tag danach bedingt sein kann, begünstigen die schmerzhaft fehlerhafte Kontraktion-Dilatation-Regulation.

Die Migräne-Vorhersage von Menschenswetter stützt sich seit jeher auf die vaskuläre Theorie. Der Wettereinfluss auf die Blutgefäße ist unmittelbar, bei Wärme weiten sie sich und bei plötzlichen Kältereizen kann das abrupte Zusammenziehen zu einer Mangelversorgung führen, die eine reflexartige Gegenreaktion provoziert - das rasche Weiten und Dehnen der Gefäßwände. Aber nicht alle Migräneattacken lassen sich dadurch erklären. Sicherlich wirken auch die bekannten Trigger Schlafstörung, Stress und innere Unruhe (in Form von Konzentrationsproblemen oder Motivationsschwäche) als Auslöser von Schmerzepisoden. Nur sind dafür ganz andere Wetterlagen verantwortlich als für eine Symptomverstärkung bei Migräne. Es ist daher empfehlenswert für diese indirekten Wettereffekte ein zweites Menschenswetter-Tagebuch anzulegen, für Motivations- und Leistungsschwankungen, für Konzentrationsprobleme, für innere Unruhe, für Schlafstörungen, für depressive Stimmung. Eine Parallelauswertung kann dann identifizieren, ob sich das Wetter über den vaskulären Mechanismus direkt auf die Wahrscheinlichkeit von Schmerzepisoden auswirkt oder ob einer der Trigger wirksam wird.

Quellen:

Gormley, P. et al. (2016): Meta-analysis of 375,000 individuals identifies 38 susceptibility loci for migraine. Nature Genetics, online veröffentlicht am 20.06. 2016. DOI: 10.1038/ng.3598

Erstellt am 14. Juli 2016
Zuletzt aktualisiert am 14. Juli 2016

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