Intelligent und sozial kompetent durch individuelle Freizeitbeschäftigung

Bildschirmspiele qualifizieren für Schule und Freundeskreis

von Holger Westermann

TV-Konsole, Computer, Tablet oder Smartphone, der Bildschirm ist das Spielbrett des 21. Jahrhunderts. Nicht Würfel und Spielfigur, sondern Jump-and-Run oder Egoshooter garniert mit Zombies und Drachen begeistern Kinder und Jugendliche. O tempora, o mores! (lat.: Oh was für Zeiten, oh was für Sitten!) beklagen Puristen den Verlust der Spielkultur und vermuten einen negativen Effekt auf den Intellekt und soziale Kompetenz der heranwachsenden Generation.

Man kann antworten; Tempora mutantur, nos et mutamur in illis (lat.: Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen). Nimmt man den Wandel der Zeiten als Synonym für neue Technik und das „wir“ für die Gesellschaft insgesamt, so zeigt sich jedoch an den Jüngsten (und nicht wie im ursprünglichen Verständnis des Zitats/Aphorismus an den Älteren) die Dynamik des Fortschritts. Sie haben den größten Teil ihrer Biographie mit den neuen Bildschirmgeräten verbracht - sie sind ihnen innig vertraut und werden bedenkenlos genutzt. Ältere ziehen immer wieder einen Vergleich zu Gegenständen /Ideen / Lösungen die sich vormals als tauglich erwiesen hatten und verlangen von den neumodischen Alternativen eine „bessere“ Lösung. Letztendlich führt diese Forderung nach Rechtfertigung, ergänzt um eine Portion Nostalgie, die wehmütig an die eigene Jugend und deren Lern- und Spaßerlebnisse erinnert, zu einer emotional motivierten Kritik an Bildschirmspielen.

Jedoch ist der kindliche und jugendliche Geist offensichtlich in der Lage auch aus den modernen Formen des zerstreuenden Zeitvertreibs Gewinn zu ziehen. Die Spiele haben sich verändert, der positive Einfluss des Spielens auf die geistige Entwicklung ist geblieben. Das ist glücklicherweise so, denn in Europa verbringt jedes fünfte Kind mehr als fünf Stunden pro Woche mit Bildschirmspielen.

Für eine Studie zum Einfluss des Spielelens auf die soziale Kompetenz und psychischen Gesundheit der Jugendlichen wurden in sechs Ländern der Europäischen Union 3.195 Schulkinder (6 bis 11 Jahre alt), deren Eltern und Lehrer befragt. Die Kinder füllten den Dominic Interactive Fragebogen für ihre Altersstufe aus. Er wurde entwickelt um psychische Probleme wie Angst, Depression, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) oder andere Verhaltensstörungen zu erkennen. Die Eltern berichteten wie häufig und ausdauernd ihr Kind am Bildschirm spielte (wohl eher: Was sie davon wussten). Dabei zeigte sich, dass ältere Knaben aus mittelgroßen Familien besonders intensiv am Bildschirm spielten, während Kinder mit alleinerziehenden und psychisch belasteten Müttern weniger Zeit mit Bildschirmspielen verbrachten. Lehrer beurteilten in einem Fragebogen Lernfähigkeit und soziale Kompetenz der Schüler.

Faktoren wie Alter und Geschlecht der Kinder, Kinderreichtum der Familie sowie Alter, Familienstand, Bildung, Erwerbsstatus und psychische Belastung der Mutter wurden ebenso statistisch herausgerechnet wie der Einfluss des Landes in dem die Daten erhoben wurden. Denn es zeigten sich auch markante regionale Unterschiede. Kinder aus westeuropäischen Ländern zeigten seltener eine intensive Begeisterung für Bildschirmspiele als Kinder aus Osteuropa (9,66 gegenüber 20,49%).

Das Ergebnis überrascht und widerlegt die kulturskeptische Hypothese. Fast doppelt so hoch war bei den Kindern, die häufig und ausdauernd am Bildschirm spielten, die Wahrscheinlichkeit für hohe intellektuelle Leistungsfähigkeit (Faktor 1,75) und für gute schulische Leistungen (1,88). Auch soziale und mentale Probleme traten bei diesen Kindern seltener auf; sie stritten sich seltener im Freundeskreis (peer group) und hatten insgesamt  hatten weniger Probleme mit Gleichaltrigen.

„Für Schulkinder sind Bildschirmspiele oft eine gemeinschaftliche Freizeitbeschäftigung“ erläutern die Forscher in ihrem Fazit. Dadurch sind Kinder, die Bildschirmspiele nutzen besser in den Kreis Gleichaltriger integriert. Sie können sich über die (aus Perspektive der Kinder) relevante Freizeitbeschäftigung unterhalten - sie können mitreden. In der Studie wurden ausschließlich (sehr allgemeine) lernpsychologische und sozialpsychologische Aspekte betrachtet. Auswirkungen auf Konzentrationsfähigkeit* und Fingerfertigkeit bleiben unberücksichtigt. Die Forscher warnen vor einer allzu forschen Interpretation der Studienergebnisse. Es sei nicht garantiert, dass intensives Bildschirmspiel die Schulleistungen und soziale Kompetenz verbessere. Womöglich sind es die kompetenten und sozial wenig gestressten Kinder, die hinreichend Zeit und innere Ruhe für zurückgezogenes Spielen haben. Sie empfehlen die Zeit für Bildschirmspiele zugunsten gemeinsamer Aktivitäten in der Familie zu begrenzen.


* Viele Bildschirmspiele erfordern Konzentrationsfähigkeit. Steigt die Konzentrationsfähigkeit von Vielspielern durch die Übung im Spiel oder spielen nur solche Kinder viel, die sich gut konzentrieren können - weil nur sie Erfolg und Spaß dabei haben?

Quellen:

Kovess-Masfety, V. et al. (2016): Is time spent playing video games associated with mental health, cognitive and social skills in young children? Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology, online veröffentlicht am 05.02.2016. DOI: 10.1007/s00127-016-1179-6

Erstellt am 2. April 2016
Zuletzt aktualisiert am 2. April 2016

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