Freundliches Erinnern ist effektiver als drangsalierendes Drängen

Nudging per SMS verbessert Therapietreue

von Holger Westermann

Ermahnungen mag niemand, auch Menschen mit chronischen Erkrankungen nicht. Aber eine nette Erinnerung kann dabei helfen, die oft komplexen Therapieanweisungen zuverlässig zu erfüllen. Heutzutage kann diese Gedächtnisstütze über das Mobiltelefon durch kleine Textnachrichten (SMS) erfolgen. Die niederschwellige Kontaktaufnahme kommt nicht als mahnender Ratschlag (oft als psychischer Schlag empfunden), sondern als zartes Anstupsen (nudging) - und ist gerade deshalb erfolgreich.

Der Begriff „Therapietreue“ (Compliance, Adhärenz) ist heute allgegenwärtig, aber sehr unglücklich gewählt. „Treue“ bezeichnet ein Loyalitätsversprechen. Einer Therapie gegenüber kann es sinnvoll nicht abgegeben werden. So bleibt nur der verordnende Arzt als Loyalitätsadresse. Dieses Missverständnis kommt zum Ausdruck, wenn Patienten „heute mal sündigen“ oder vor einer Routineuntersuchung eine Woche Enthaltsamkeit üben, damit die Messwerte im Toleranzbereich bleiben und der Arzt „mit mir zufrieden ist“. Nachlässige Therapietreue als Sünde gegenüber dem Gott in weiß - welch ein Unsinn. Nicht die Treue wird gebrochen, nicht das Gewissen nimmt Schaden, sondern die eigene Gesundheit.

Aus Perspektive der Ärzte ist die Popularität des Begriffs „Therapietreue“ verständlich. Nicht weil sie es genießen als gottgleich angesehen zu werden, sondern weil sie beim Patienten das Gesundheitsproblem personifizieren. Das illustriert die inzwischen verblasste Sitte vom „Blinddarm auf Zimmer 253“ zu sprechen. So repräsentiert der Patient ein Problem, das durch ein spezielles Verfahren gelöst werden kann - durch die getreulich durchgeführte Therapie. Die Kunst des Arztes besteht darin, den idealen Lösungsweg zu kennen. Jede Abweichung vom Therapieplan sabotiert den potentiellen Erfolg. Die Patienten leiden dann unnötig lang oder intensiv. Für den engagierten Arzt eine Situation, die frustriert. So gesehen kann Ignoranz gegenüber der mit Sachkenntnis ausgewählten Therapie als Illoyalität verstanden werden.

Patienten betrachten ihr Leiden und die Therapie jedoch aus anderer Perspektive. Das gilt im Besonderen für Menschen, die nicht auf nachhaltige Heilung hoffen dürfen. Chronisch kranken Menschen müssen mit ihrer Erkrankung leben lernen, sie müssen sich auf ein Leben mit spezifischen Einschränkungen und einer Dauertherapie einrichten. Dabei wirken regelmäßige Therapiemaßnahmen als penetrante Erinnerung an die Krankheit. So schwindet die Bereitschaft zur regelmäßigen Einnahme von Medikamenten oder die Zuverlässigkeit beim Einhalten von Verhaltensregeln, sobald der Leidensdruck nachlässt - und sei es nur vorübergehend.

Ermahnungen wirken dann sogar kontraproduktiv, Kontrolle provoziert die ideenreiche Entwicklung von Vermeidungsstrategien. So ist die Compliance chronisch kranker Menschen oft schlecht. Laut einer Übersichtsanalyse der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nehmen rund die Hälfte dieser Patienten ihre Medikamente entweder gar nicht oder weichen erheblich vom Therapieplan. Die Vorschläge und Versuche daran etwas zu ändern sind vielfältig und durchweg gescheitert; die Effekte blieben gering und erreichten nur wenige.

Eine neue Option bietet die zunehmende Verbreitung von Mobiltelefonen. In Industriestaaten ist inzwischen, über alle Altersgruppen hinweg, eine fast vollständige Abdeckung erreicht. Jedes Mobiltelefon, auch ältere Modelle, kann SMS (Short Message Service) Kurznachrichten empfangen. Damit ist es möglich direkt beim Patienten präzise an die Termine für einzelne Therapie-Komponenten zu erinnern: Medikamenteneinnahme, Bewegungsanimation, Atemübungen. Doch wie erfolgreich sind solche Erinnerungen? Bessert sich die Compliance tatsächlich, wenn das Mobiltelefon (für viele inzwischen eine Art Kommunikations-Körperteil) die Therapie-Handlung empfiehlt?

Eine Übersichtsarbeit (Meta-Analyse) untersuchte nicht nur die Ergebnisse, sondern die Daten von 16 wissenschaftlichen Studien zum Effekt eines SMS-Dienstes auf die Compliance der Patienten. Dabei wurden nur solche Studien berücksichtigt, die mit einer zufällig bestimmten Kontrollgruppe arbeiteten (randomisiert kontrolliert) und die den Effekt über einen nennenswerten Beobachtungszeit bestimmten (im Mittel 12 Wochen). Ob die SMS-Erinnerung eine Compliance-Verbesserung bewirkten, wurde durch Befragung der Patienten (zumeist per Fragebogen) erhoben. Insgesamt wurde die Daten von 2.742 Patienten analysiert.

Die Ergebnisse sind explizite Empfehlung einen kostengünstigen SMS-Dienst zur Compliance-Verbesserung bei chronisch kranken Menschen einzurichten. Die Wahrscheinlichkeit für gute Compliance konnte deutlich verbessert werden von 50% auf 67,8%. Selbst wenn man berücksichtigt, dass Studien mit negativem Ergebnis geringe Chancen auf Veröffentlichung haben (publication bias) bleibt ein deutlicher, relevanter (und signifikanter) Effekt. Dabei ist es offensichtlich unerheblich auf welchem technischen Niveau (nur Empfang der SMS; mit Weitergabe der Patientendaten; mit Antwortmöglichkeit) der Dienst angeboten wird. Dennoch beklagen die Forscher, dass weiterhin rund ein Drittel der Patienten nicht zu mehr tätiger Verantwortung für ihre Gesundheit motiviert werden konnten.

Eine Erinnerung auf dem Mobiltelefon wird offensichtlich als wenig aufdringlich und mahnend empfunden. Zum einen sind die Menschen gewohnt, dass eine SMS knapp formuliert wird. Nur 140 Zeichen sind möglich und auf vielen Geräten ist das Tippen beschwerlich. Kurze Mitteilungen sind SMS typisch und werden nicht an den Höflichkeitsschablonen der normalen Kommunikation gemessen. Zum anderen nimmt der Patient das Mobiltelefon zur Hand, um die Nachricht zu lesen. Die Kommunikation, obwohl als unangeforderte Nachricht empfangen, wird durch dieses Zurhandnehmen als selbst eingeleitet empfunden. Das sind offensichtlich gute Bedingungen für nudging, für das Anstupsen. Diese weiche Strategie zur Verhaltenslenkung erfreut sich zunehmender Beliebtheit. So konnte in Dänemark der Müll auf den Straßen um 40% gesenkt werden, nachdem grüne Fußspuren den Weg zu öffentlichen Mülleinern wiesen. Platziert man kalorienreichen Pudding schwer zugänglich hinter Obstsalat wechselte die Präferenzen der Kantinenkunden. Nicht Verbote und explizite Ermahnungen, sondern sanftes Erinnern und das Absenken von Hürden bewirken die gewünschte Verhaltensänderung.

Notwendig sind Studien, die auch langfristige Effekte berücksichtigen. Gerade bei Menschen, die unter chronischen Erkrankungen leiden, ist nachhaltige Wirksamkeit solcher Maßnahmen wichtig - oft auch überlebenswichtig. Bleibt der positive Einfluss des SMS-Dienstes erhalten oder nutzt er sich ab? Bewirkt permanentes nudging auch bei den Patienten, die sich bisher nicht anstupsen ließen, mittelfristig eine Verhaltensänderung? Manche benötigen einen dritten und vierten Stups, bevor sich etwas regt und dann bleiben sie zuverlässig dabei.

Die aktuelle Entwicklung stimmt zuversichtlich. Schon heute halten fast die Hälfte der Menschen in Deutschland Health-Tracker zur Kontrolle der Vitalfunktionen für sinnvoll. Im Zusammenspiel mit einem Smartphone (Mobiltelefone mit Bildschirmbedienung, ohne Tastatur) können solche Geräte Herzfrequenz, Blutdruck und Blutzucker messen und in einem Kalender protokollieren. Bedauerlicherweise ist die Begeisterung gerade unter jungen Erwachsenen (18 - 29 Jährige) besonders groß. Für die Affinität scheint eher das Technikinteresse ausschlaggebend zu sein und nicht das Risiko, an einer Krankheit zu leiden, für die solche Messdatenreihen relevant sind. Das ergab eine Befragung von 2.035 Menschen in Deutschland durch das Marktforschungs- und Beratungsinstituts YouGov. Rund zwei Drittel der Befragten erwarten von ihrem Arzt, dass er solche Vitaldaten auswerten und in der Therapiegestaltung berücksichtigen kann.

Noch größer ist die Zustimmung (72%) für vernetzte Gesundheitsgeräte, die es älteren Menschen oder chronisch Kranken ermöglichen länger im gewohnten Umfeld zu leben. So kann ein automatischer Sturzsensor in der Armband­uhr Alarm geben und Hilfe herbeirufen. In der Rolle pflegender Angehöriger befürworten sogar 80% der Befragten den Einsatz elektronischer Hilfs- und Kontrollgeräte. Das war zu erwarten, denn zumeist sind es die jüngeren, die damit rechnen (müssen), alsbald in dieser Rolle gefordert zu sein. Und die jüngeren haben eine höhere Affinität und größeres Vertrauen (begründet durch mehr Erfahrung) zu technischer Unterstützung.

Für die zumeist älteren Menschen, die unter chronische Erkrankungen leiden, ist das Zukunftsmusik. Viele scheuen den Aufwand, Kompetenz in der Handhabung von Smartphones zu erarbeiten, andere schreckt der oft erhebliche finanzielle Aufwand. Das vertraute Mobiltelefon mit Tastenfeld genügt ihnen vollauf. Heute erreicht ein SMS-Dienst fast alle Patienten in Mitteleuropa. Sicherlich wird man schon in wenigen Jahren das selbe von einem Service behaupten können, der den Besitz eines Smartphones voraussetzt. Doch dann sollte man berücksichtigen, dass der nudging-Charakter der Kommunikation nicht unter der technischen Perfektion leidet.

Bis dahin gilt: small is smart - und schlanker als mit einem SMS-Dienst ist Kommunikation kaum möglich. Es sei denn, die Menschen mit chronischen Erkrankungen können auf den Anstupser verzichten und motivieren sich selbst zu besserer Compliance. Es kommt ihrer eigenen Gesundheit zugute.

Quellen:

Thaler, R.H.; Sunstein, C.R. (2008): Nudge: Improving Decisions about Health, Wealth, and Happiness. Yale University Press

Thakkar, J. et al. (2016): Mobile Telephone Text Messaging for Medication Adherence in Chronic Disease - A Meta-analysis. JAMA Internal Medicine 176 (3): 340 - 349. doi:10.1001/jamainternmed.2015.7667

Deutsche sehr offen für smartphonebasierte Überwachung von Vitalfunktionen. Rezension von „Internet 4.0: Smart Health & Smart Care“ in Deutsches Ärzteblatt, online am 15.06.2016.

Erstellt am 1. Juli 2016
Zuletzt aktualisiert am 2. Juli 2016

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