Geringe Kompetenz auch bei chronisch kranken Menschen

Gesundheitsinformation überfordert Patienten

von Holger Westermann

Experten aus Betroffenheit, so werden Menschen mit dauerhaften oder ständig wiederkehrenden Erkrankungen beschrieben. Doch diese Einschätzung ist offensichtlich zu optimistisch. Selbst chronisch kranken Menschen verstehen komplexe Gesundheitsinformation oftmals nicht. Betrachtet man die gesamte Bevölkerung ist das Niveau der Gesundheitsbildung besorgniserregend niedrig. Zwei Programme zur Patienten-Schulung sollen das Problem lösen, ein politisches und und ein praktikables.

Eine Studie der Universität Bielefeld (Nordrhein-Westfalen) in Zusammenarbeit mit dem AOK Bundesverband (Berlin) offenbart Defizite bei 54% der Erwachsenen in Deutschland, wenn sie Informationen zur Gesundung und Gesunderhaltung verstehen und deren Relevanz beurteilen sollen. Insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund, geringem Bildungsgrad und Hochbetagte sind oftmals überfordert.

Die Forscher klassifizierten die Gesundheitskompetenz bei rund 10% der Erwachsenen als unzureichend und für weitere 44% als so weit eingeschränkt, dass von einem lückenhaften Informationstransfer auszugehen ist. Dabei wurde Gesundheitskompetenz definiert als „Motivation und Fähigkeit, gesundheitsrelevante Informationen zu suchen, richtig zu verstehen, zu beurteilen und verwenden zu können, um ein angemessenes Gesundheitsverhalten zu entwickeln, sich bei Krankheiten die nötige Unterstützung durch das Gesundheitssystem zu sichern und die dazu nötigen Entscheidungen treffen zu können“.

Diese Definition nutzt sehr viele Begriffe, die ihrerseits definitionsbedürftig sind, beispielsweise „richtig zu verstehen“ oder „richtig zu beurteilen“ sowie „ angemessenes Gesundheitsverhalten“ und „ nötige Entscheidungen“. Da klafft bei der Datenauswertung ein enormer Ermessensspielraum. Womöglich sind diese vagen Formulierungen auch dem öffentlichen Auftrag zur Studie geschuldet, damit die Ergebnisse den politischen Diskurs beleben.

So warnt der deutsche Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) vor dubiosen Informationsangeboten im Internet. Wer Gesundheitsinformation nicht hinreichend gut verstehe, könne leicht Opfer gezielter Täuschung werden, denn es „lassen sich neueste wissenschaftliche Forschungsergebnisse nicht immer leicht von werblichen Angeboten und interessengeleiteten Empfehlungen unterscheiden”.

Menschen, die dauerhaft mit einer erheblichen Gesundheitsbeeinträchtigung leben müssen, werden besonders intensiv umworben. Nicht immer ist das Informationsangebot seriös. Eine geringe Gesundheitskompetenz macht dabei besonders anfällig für Werbung, die sich als seriöse Information tarnt. Ein Wundermittel für „nur“ 2,75 Euro pro Tagesdosis erzwingt ein finanzielles Engagement von mehr als 1.000 Euro im Jahr.

Gerade chronisch kranke Menschen zeigten eine überraschend niedrige Gesundheits­kompetenz. Offensichtlich ist ein Irrglaube, „dass Erfahrungsakkumulation, wie sie durch die Krankheitssituation automatisch gegeben ist, zu Kompetenzgewinn und Expertise führe“. Vielmehr sei bei diesen Patienten „Irritation, Verunsicherung und empfundene Schwierigkeiten“ zu erkennen wenn es gelte unterschiedliche Behandlungsoptionen zu beurteilen, Packungsbeilagen für Arzneimittel zu verstehen oder zu entscheiden, ob eine ärztliche Zweitmeinung sinnvoll ist.

In seiner Stellungnahme anlässlich der Vorstellung dieser Studie betont Minister Gröhe, dass „unabhängige, wissenschaftlich belegte und leicht verständliche Gesundheits­informationen“ notwendig sei. Nicht trotz sondern wegen der vielfältigen Information aus dem Internet sei das vertrauensvolle Gespräch mit dem Arzt besonders wichtig, um Patienten die Diagnose und Behandlung verständlich zu erklären. In sein Appell für eine Stärkung der Gesundheitskompetenz sieht er jedoch einen weit größeren Kreis an Verantwortlichen in der Pflicht: „Wir brauchen jetzt eine gemeinsame Kraftanstrengung von Ärzten, Krankenkassen, Apotheken, Pflege-, Verbraucher- und Selbsthilfeverbänden und Behörden, um das Gesundheitswissen in ganz Deutschland zu verbessern.“ Er fordert einen „Nationalen Aktionsplan für Gesundheitskompetenz“ als zentralen Baustein.

Soll die Kompetenz der Patienten nachhaltig verbessert werden, ist jedoch nicht zwingend ein „Nationaler Aktionsplan“ mit wolkiger Zuständigkeit notwendig. Forscher der Universität Witten/Herdecke (Nordrhein-Westfalen) und der Harvard University in Boston (Massachusetts, USA) untersuchten im Rahmen des Projektes „OpenNotes“ inwiefern eine nachvollziehbare Erläuterung der Therapie das Verständnis konkreter medizi­nischer Probleme erleichtert und infolgedessen die Mitarbeit (Therapietreue, Compliance) und das Selbstmanagement der Patienten verbessert.

„Wir wollten herausfinden, wie sich die Beziehung zwischen Arzt und Patient verändert, wenn den Patienten volle Transparenz gewährt wird. Das für viele durchaus erstaunliche Ergebnis war, dass sich die Beziehung deutlich verbessert“, erläutern die Wissenschaftler ihr Forschungsinteresse und das zentrale Ergebnis ihrer Studie.

Für diese Studie wurden die frei formulierten Fragebogen-Antworten von 576 Patienten (Alter 23 - 88 Jahre; 414 Frauen) sowie 13 detaillierte Patienten-Interviews (58 - 87 Jahre alt; 9 Frauen) ausgewertet. Mehr als Dreiviertel der Patienten (77%) fühlten sich durch das Partizipations-Programm „OpenNotes“ besser in ihre eigene Therapie eingebunden. Sie hatten das Gefühl selbst Kontrolle über die medizinische Behandlung auszuüben. Fast alle Befragten deckten zumindest ein Missverständnis oder gar einen Irrtum über ihre Therapie auf - nur so war eine Korrektur möglich. Mehr als 60% der Patienten konnten dadurch ihre Medikamente besser dosieren.

Nicht nur die Intensität auch die Qualität des Vertrauensverhältnisses zwischen Patienten und Arzt profitierte von der Investition in eine verbesserte Kommunikation. So räumten einige Patienten ein, vor der „OpenNotes“ Intervention Informationen zurück gehalten zu haben, die sich im Nachhinein als wichtig herausgestellt haben - sie wollten Ihre Privatsphäre schützen.

Letztendlich wird durch gegenseitiges Vertrauen und die Bereitschaft zur offenen und erklärenden (anstelle von ignoranten und belehrenden) Kommunikation die Gesprächsgrundlage verbessert: Ärzte erfahren alles, was sie für eine optimale Therapie wissen müssen und Patienten verstehen endlich, was sie selbst zu einem besseren Therapieerfolg beitragen können. „Letztlich ist dieser transparente Ansatz ein Gewinn für beide Seiten” betonen die Forscher in ihrem Fazit. „Besser informierte und vorbereitete Patienten und auch andere Ärzte und Pflegende können besser über die gewünschte Behandlung unterrichtet werden.“

Genau diesem Ansatz folgt auch die Redaktion von Menschenswetter. Unser Leitbild ist der aus seriösen Quellen (dafür stehen u.a. die Links zu den Abstracts und die doi der Artikel) über relevante Themen (dafür steht die Redaktion) informierte Patient. Menschen, die unter chronischen Erkrankungen oder erheblichen Befindlichkeitsstörungen leiden sollen diese Informationen nutzen (können), um im Dialog mit ihrem Arzt die Therapie zu optimieren, damit sich ihre Lebensqualität nachhaltig bessert. Ein „Nationaler Aktionsplan“ ist dann womöglich entbehrlich.

Quellen:

Esch, T. et al. (2016): Engaging patients through open notes: an evaluation using mixed methods. British Medical Journal (BMJ Open) 2016; 6:e010034, online veröffentlicht am 29.01.2016. doi:10.1136/bmjopen-2015-010034

Quenzel, G., Schaeffer, D. (2016)
: Health Literacy – Gesundheitskompetenz vulnerabler Bevölkerungsgruppen. Universität  Bielefeld, veröffentlicht im Februar 2016, öffentlich vorgestellt am 13.05. 2016.

Erstellt am 10. Juni 2016
Zuletzt aktualisiert am 10. Juni 2016

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